Big Brother ist tot

Big Brother ist tot

Es war 1984 als ich in einem Seminar saß, in dem wir 1984 von George Orwell lasen. Mit diesem Roman schenkte der Autor den Menschen ein neues Wort für die Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Ein menschliches Wort für monströse Staats-Strukturen. Die Menschen wurden komplett überwacht, ein Wahrheitsministerium ließ täglich neue Wahrheiten schreiben, alte Wahrheiten löschen oder verdrehen. Die Bedeutung einiger Worte wurde in ihr Gegenteil verdreht und damit wurde Menschen die Fähigkeit zum Denken geraubt. Das Wort für diese monströsen Gebilde war "Big Brother". Gemeint waren damit die faschistischen und sozialistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Und Orwells Prognose für die weitere Entwicklung menschlicher Gesellschaften in 1984 war düster - aber nicht gänzlich hoffnungslos!
Man sagt die Erinnerung verkläre die Vergangenheit zum Positiven. Wenn das richtig ist, dann stimmt es nur für den persönlichen Gebrauch, in dem Sinne, dass zum beispiel der Urlaub vor 10 Jahren etwas schöner war als alles, was einem heutzutage geboten wird usw. 1984 gab es noch Leute die sich positiv an die Hitler-Jahre erinnern wollten, und sich damit regelmäßig zur Lachnummer machten. Das Trauma war zu tief im gesellschaftlichen Gedächtnis - es gab nur Scham, Schuld, Aufarbeitung - und Scheinheiligkeit. 1984 war Big Brother tot, beerdigt und dunkle Vergangenheit. Zumindest für West-Europa. Dennoch konntest du bei deinen Altersgenossen Punkten, wenn es dir gelang, bestimmte gesellschaftliche Zusammenhänge im faschistischen Kontext darzulegen. Um ein aktuelleres Beispiel zu nehmen: Gerhard Schröder bemühte gerne Worte wie "Reformen" und "Umbau des Sozialstaates". Schmeichelnde Umschreibungen für brutale Streichungen,  Stigmatisierung armer Bevölkerung-Schichten und Herstellung von Erpressbarkeiten am Arbeitsmarkt (Lohndumping). Das Wort "Reformen" hatte bis dahin eine gegenteilige Konnotation. Es war gleichbedeutend mit sozialer Sicherung und Ausbau und Festigung des Sozialstaates. Schröders hatte sich also schuldig gemacht. Sein PR-Apparat änderte die Bedeutung der Worte so wie Hitler oder Stalin es machten. 1984 hättest du glatt danach gefragt wie viel Nazi im Bundeskanzler steckt - Eifrig wie du warst wäre dabei die Ladung von einem 40 Tonner LKW raus gekommen (Fotokopien!). Zwanzig Jahre später war vom Elan wenig übrig und deshalb ist die Welt etwas grauer geworden. Denn eines hast du ebenfalls vergessen. Zum Unterdrücken und Erpressen gehören immer zwei: Einer der unterdrücken und erpressen will und ein Zweiter, der sich unterdrücken und erpressen lässt.

Hell - Grau - Dunkel. 

Ein Trend? Zur Markteinführung der Spiele-Konsole Xbox One gab es viel Kritik, die im Kern unberechtigt ist, aber berechtigt sein könnte, wenn wir in einem Orwell'schen Staat leben würden. Unberechtigte Kritik wirkt dennoch, wenn sie an die Ängste der Menschen appelliert. Die Angst die sehr tief sitzt ist die Angst vor Big Brother.
Big Brother ist Tod - klar - aber die Angst vor ihm lässt dich halluzinieren. Du siehst Big Brother, wo schlicht ein Freizeitspaß drin ist. Du hast Angst vor einem Spielzeug, nur weil Opi Gestapo, KGB, MI5, Auschwitz, Massen-Erschießungen, Straßen-Kämpfe und Bombennächte zelebriert hat. Aus Gründen, die wir kaum Erahnen können war Opi voll aus der Spur geraten und alles was er dir hinterlassen hat ist Angst, und eine Spur von Hass, Neid und Zerstörung. Vor allem hat er dir den Mythos vom Big Brother hinterlassen. Ein Bösewicht, der wirklich unter die Haut geht. Big Brother war SciFi.
Andererseits hast du es genossen, wenn Captain Jean-Luc Picard in seinen Ready Room ging und der Computer wie ein treuer Hund aufs Wort hörte. Du hast 3D-Animationen gesehen, du hast gesehen, wie der Computer bestellte Musik abspielte, Earl Gray Hot spendierte, mit Fakten und Plausibilität-Prüfungen beim Nachdenken half und so weiter. Du hast es gesehen, und du wusstest es ist SciFi. Du warst ein wenig neidisch auf den Captain.
Scheinbar hat die Realität SciFi eingeholt. Microsoft will die Xbox One in dein Wohnzimmer stellen - Aber Microsoft ist kein Star Fleet - richtig? Genau und deshalb gibt's auch keinen Earl Gray Hot aus der Console, holografische Projektionen von Sonnensystemen - vergiss es! Fakten-check - Nur so weit Bing dich trägt, den Rest musst du im Kopf haben, vor allem musst du entscheiden was Wahrheit ist und was Halluzination oder Lüge ist. Für's erste musst du dich damit begnügen, dass Kinect deine Stimme erkennt und automatisch dein Konto lädt, wenn du "Xbox on" befiehlst. Das klappt nur, wenn die Kiste richtig installiert ist, und der Netzstecker steckt. Die 3D-Kamera sieht dich besser. Das ist gut, denn das Programm interpretiert deine Gesten, das heißt du hast vorher Gesten gelernt, damit du das Programm bedienen kannst. Kann die Xbox deinen Puls durch die Kamera erkennen? Na, dann könnte es dein Arzt auch - kann er aber nicht, er muss ihn umständlich messen. Kann die Xbox im Auftrag von dritten deine Privatsphäre überwachen? Gestapo, KGB, MI5, Auschwitz-SS usw. die konnten das schon vor 80 Jahren. Es wäre naiv anzunehmen, dass diese Fähigkeiten verloren gegangen sind. Aber es ist eine Straftat. Wer es macht und nicht durch einen Richter oder Staatsanwalt beauftragt wurde wird bestraft.
Vielleicht bin ich zu alt.

Big Brother bei RTL

Die Fernsehsendung spielt mit der Big Brother Metapher und dreht sie rum. Wir alle sind jetzt Big Brother und glotzen in einen Container. Dort beobachten wir Leute, die in einer quasi gestellten Szenerie, improvisieren und Realität spielen. Manche empfinden das als peinlich, amüsant oder was auch immer. Es findet Zuschauer und es bildet bewusst-Sein für "Big Brother". Dieses peinlich berührte Bewusstsein fragt: Willst du beim Onanieren erwischt werden, nur weil du Pornos über die Xbox One schaust? Peinlich Peinlich! Aber vor allem eine Straftat. Bestraft wir der Spanner der sich in dein System gehackt hat. RTL macht aus Big Brother eine Farce. Schüttelt dabei alte Ängste zu und baut neue Empfindsamkeiten auf.

Kinect...

...ist nicht neu. Du kennst Kinect schon seit 2010 und 24 Millionen Kinect Kunden kennen es ebenfalls. Kinect ist kein Spielzeug. Als KinectFusion kann es als 3-D-Scanner genutzt werden und mit Midiziner-Hightech gekoppelt chirurgische Eingriffe unterstützen. Oder wenn dein Arbeitsplatz einen 4k Bildschirm beinhaltet wirst du dich vielleicht darüber freuen, wenn Kinect die Werkzeuge die deine Anwendung bereithält in deiner Nähe platziert, so dass du darauf zugreifen kannst ohne 1,5 Meter zur Seite gehen zu müssen. 

Big Data

ist das Schlagwort für Datenverarbeitung im großen Stil. Stell dir vor du bist in einem Club oder einer Disco und willst wissen ob es irgendwo besser ist. Mit deinem Handy machst du eine Momentaufnahme von der Stimmung in dem Laden und sendest das Sound-File an einen Server. Der analysiert das Stimmengewirr, stellt fest wie viele Leute im Raum sind und welche Musik gespielt wird. Im Tausch bekommst du genau diese Infos über vier weitere Läden in der näheren Umgebung. Angst vor Spionage hat hier niemand mehr.
Für It-Spezialisten verspricht Big Data vor allem gute Jobs. Firmen die zur Zeit "Big Data" in ihrer Jobsuche haben sind: Oracle, Intel, Deutsche Telekom AG, SHS Viveon AG, Amadeus Data Processing GmbH, Experteer GmbH, Perit Consulting GmbH, saracus consulting GmbH und viele, viele andere. 
Big Data ist nicht Big Brother, denn hinter Big Data stehen zu viele Einzelinteressen. Big Data ist angewandte Informatik, das was Forscher in den letzten Jahrzehnten erforscht haben findet nun Anwender. Ohne Big Data gäbe es kein Google+, kein Facebook und so weiter, denn diese Plattformen sammeln Informationen, die wir alle dort hinterlassen und destillieren daraus neue Informationen, die es Programmen ermöglicht flexibel und vorausschauend auf ihre Anwender zu reagieren. Im Arbeitsprozess erhöht das die Produktivität, in der Freizeit sorgt es für mehr Spass beim Spielen, Musik hören, Filme schauen und Bücher lesen. Fehlgriffe und Enttäuschungen nach dem Kauf werden seltener.
Ich denke allerdings dass Big Data auch dafür sorgt, das der Pool an verwertbarem Herrschaftswissen größer wird. Und wer mehr weiß kann mehr Geld verdienen oder Leute manipulieren. In einem orwell'schen Staat würde Big-Data missbraucht werden und die Zukunft sähe noch trüber aus, als sie es eh schon ist. In einer Demokratie wird bei bestimmten Konzernen oder Institutionen Wissen entstehen, das zum Nutzen aller oder nur ganz weniger eingesetzt werden kann. So lange die Verfahren die hinter Big Data stehen von vielen angewandt werden, sehe ich keine Gefahr. In einer echten Demokratie sollten nicht nur die Verfahren öffentlich gemacht werden, sondern auch deren Ergebnisse, so dass alle einen Nutzen aus Big Data haben.

Fazit

Big Brother ist tot. Spuren hinterlassen hat er als Farce im TV-Programm und in der Angst mancher Menschen vor technischen Entwicklungen.

Quellen

Beliebte Posts aus diesem Blog

Windows Batch-Dateien mit Tastatur-Abfragen steuern

And every day the Ki greets you with another limerick

Kein Kommentar: Spiegel Online deaktiviert die Kommentare auf Google Plus