Wie man ein Buch verschwinden lässt, ohne es zu verbieten

In mehreren republikanisch regierten Bundesstaaten der USA wurden in den letzten Jahren hunderte Bücher aus Schulbibliotheken entfernt – oft mit Verweis auf Moral, Identitätspolitik oder angebliche Indoktrination

Eine Typologie der Giftschrank-Literatur und ein deutscher Albtraum auf leisen Sohlen.

In den Vereinigten Staaten – genauer gesagt: in bestimmten Schulbezirken, nicht landesweit – verschwinden Bücher aus Schulbibliotheken und aus dem Unterricht. Nicht durch Feuer, sondern durch Formulare. Nicht durch Zensur, sondern durch Kuratierung. Es ist ein stiller Prozess, der sich als pädagogische Fürsorge tarnt, jedoch in Wahrheit eine selektive Sichtbarkeits-Kontrolle betreibt.

In Deutschland ist das (noch) nicht der Fall. Aber was wäre, wenn?

I. Warum ich über amerikanische Bücher schreibe, obwohl ich in Deutschland lebe

Weil die Mechanismen, die dort greifen, auch hier möglich wären – wenn man sie nur höflich genug verpackt.  

Stellen wir uns vor: Eine Partei wie die AfD übernimmt Regierungsverantwortung. Sie muss keine Bücher verbieten. Sie muss nur die Kriterien für „geeignete Literatur“ neu definieren.  

- Schulbibliotheken werden „entideologisiert“  

- Stadtbibliotheken „entlastet“  

- Lehrpläne „entpolitisiert“

Das klingt harmlos. Ist es aber nicht. Denn wer entscheidet, was gezeigt wird, entscheidet auch, was gedacht werden darf.

II. Der Giftschrank ist kein Ort, sondern eine Methode

In den USA ist der Giftschrank gut organisiert. Er besteht aus:

- Elternkomitees mit moralischem Kompass

- Schulräten mit ideologischer Agenda

- Algorithmen, die Sichtbarkeit steuern

In Deutschland könnte er aussehen wie:

- ein neues „Neutralitätsgesetz“ für Bibliotheken  

- ein „Jugendschutzfilter“ für Schulmaterial  

- eine „Qualitätskommission“ für Lehrpläne

Die Bücher wären nicht verboten. Sie wären nur nicht mehr da.

III. Typologie der Giftschrank-Literatur

1. Die Klassiker mit Sprengkraft  

Orwell, Huxley, Atwood – zu bekannt, um sie zu verbieten. Zu unbequem, um sie zu erklären. Sie bleiben im Regal, aber verschwinden aus dem Unterricht.

2. Die Identitätsstörer  

Bücher, die queere, migrantische oder feministische Perspektiven zeigen. In einer Ordnung, die Homogenität bevorzugt, gelten sie als „spaltend“.

3. Die Systemkritiker  

Texte, die nicht nur Figuren, sondern Institutionen hinterfragen. Schule, Polizei, Familie – nicht als Kulisse, sondern als Problem. Sie gelten als „nicht konstruktiv“.

4. Die Ambivalenten  

Literatur, die keine klare Moral bietet. Die Fragen stellt, statt Antworten zu geben. In einer Welt, die Eindeutigkeit verlangt, sind sie „verwirrend“.

IV. Fallbeispiel: Das Verschwinden von 1984

In einem US-Schulbezirk passiert Folgendes:

- Das Buch bleibt im Regal, aber ohne Kontext.

- Ein Elternkomitee meldet Bedenken: „Zu düster, zu sexuell, zu politisch.“

- Die Schule reagiert: „Wir setzen es aus, bis zur Neubewertung.“

- Stattdessen liest man weichgespülte Dystopien mit Happy End.

- Nach zwei Jahren fragt niemand mehr nach 1984. Es ist nicht verboten. Es ist nur nicht mehr da.

In Deutschland könnte das genauso laufen – nur mit mehr Protokoll und weniger Drama.

V. Fazit: Die neue Zensur ist höflich

Sie trägt Blazer statt Uniform. Sie sagt nicht „Verbot“, sondern „pädagogische Verantwortung“. Sie verbrennt keine Bücher – sie archiviert sie. Sie löscht nicht – sie sortiert aus.

Und genau darin liegt ihre Macht.  

Denn wer entscheidet, was sichtbar ist, entscheidet auch, was denkbar bleibt.

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Der deutsche Giftschrank – überarbeitete Typologie mit Beispielen

1. Klassiker mit Sprengkraft

Diese Werke sind literarisch etabliert, aber inhaltlich unbequem – sie hinterfragen Autorität, Moral oder Gesellschaftsordnung.

- Die verlorene Ehre der Katharina Blum – Heinrich Böll  
  Kritik an Medienmacht und öffentlicher Vorverurteilung

- Die Physiker – Friedrich Dürrenmatt  
  Parabel über Wissenschaft, Verantwortung und Wahnsinn

- Der Vorleser – Bernhard Schlink  
  Ambivalente Schuldfragen, NS-Vergangenheit, moralische Grauzonen

- Die Blechtrommel – Günter Grass  
  Sexualität, Wahnsinn, historische Zumutungen – oft als „nicht altersgerecht“ eingestuft

2. Identitätsstörer und Randfiguren

Literatur, die marginalisierte Perspektiven sichtbar macht – queer, migrantisch, feministisch oder sozialkritisch.

- Superbusen – Paula Irmschler  
  Feministische Punk-Coming-of-Age-Geschichte mit politischem Witz

- Wie die Gorillas – Esther Becker  
  Queere Identität, Körperpolitik, Selbstermächtigung

- Wie wir begehren – Carolin Emcke 
Essay über sexuelle Identität, familiäre Prägung und gesellschaftliche Normen. Persönliche Vaterbezüge als Teil einer komplexen Selbstbefragung. Potenziell „zu intim“ oder „zu politisch“ für konservative Bildungskontexte.


- Wir Kinder vom Bahnhof Zoo – Christiane F.  
  Drogen, Prostitution, Jugend am Rand – oft als „zu drastisch“ eingestuft

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3. Systemkritik und institutionelle Reibung

Texte, die Schule, Polizei, Familie oder Staat nicht affirmativ darstellen, sondern als Konfliktzonen.

- Tschick – Wolfgang Herrndorf  
  Außenseiterreise mit Regelbruch und anarchischem Charme

- Der Nazi & der Friseur – Edgar Hilsenrath  
  Groteske Identitätsvertauschung, NS-Täter als Ich-Erzähler – literarisch brillant, aber provokant

- Entkommen – Joshua Groß  
  Fragmentarische Erzählweise, Kritik an Leistungsdruck und urbaner Entfremdung

4. Moralisch ambivalente Werke

Literatur, die keine klaren Antworten gibt – und damit angeblich „verwirrend“ oder „nicht erziehend“ wirkt.

- Der Prozess – Franz Kafka  
  Bürokratie, Schuld, Ohnmacht – ohne Auflösung, ohne Trost

- Die Wand – Marlen Haushofer  
  Isolation, Selbstbeobachtung, stille Rebellion gegen Gesellschaftsnormen

- Staunässe – Joshua Groß  
  Sprachlich experimentell, thematisch diffus – schwer vermittelbar im klassischen Unterricht

Wie diese Bücher verschwinden könnten – ganz ohne Verbot


- Lehrplanrevision: „Nicht prüfungsrelevant“
 wird aus dem Unterricht gestrichen
  
- Bibliotheksfilter: „Nicht altersgerecht“ → wird aus dem Jugendbereich entfernt  

- Fördermittelsteuerung: „Nicht förderfähig“ → wird nicht mehr angeschafft  

- Elternbeirat-Empfehlung: „Nicht geeignet für Wertevermittlung“ → wird nicht mehr empfohlen  

- Algorithmische Unsichtbarkeit: In digitalen Schulplattformen nicht mehr auffindbar

Was also tun? Vielleicht reicht es schon, genau hinzusehen. Zu fragen, was fehlt. Und warum. Denn der Giftschrank beginnt nicht mit dem Verbot – sondern mit dem Schweigen.



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