Wer ist Deutschland? – Der mit den coolsten Sprüchen!

„Ich nahm meine Rede zum Anlass, eine liberale Standortbestimmung vorzunehmen, dies mit dem Aufruf verknüpfend, das Land nicht rot-grüner Verweigerung und rot-grünem Kulturpessimismus auszuliefern. In Wahrheit stehe die deutsche Gesellschaft am Beginn einer neuen Epoche, die eine liberale, also unsere, sein werde. Wohlfahrts- und Verteilungsdenken hätten lange Zeit den Zeitgeist geprägt, jetzt sei es Aufgabe der F.D.P., dem totalen Versorgungsstaat, dem Steuer- und Beitragsmoloch, der Fremdbestimmung durch Funktionäre, der Hydra der Bürokratie, dem Subventionsrausch und der Datenerfassungsgier mutig den Kampf anzusagen. Gleichheit dürfe nicht zu Lasten von Freiheit durchgesetzt werden. Besondere Aufmerksamkeit widmete ich der Steuerpolitik: Der Spitzensteuersatz dürfe nicht länger tabu sein, die Lohnnebenkosten müssten eingedämmt werden.“

Diese Worte des ehemaligen Parteivorsitzenden der F.D.P. Hans-Dietrich Genscher anlässlich seines Rücktritts im Februar 1985, zitiert nach seinen „Erinnerungen“ [1, Seite 487] Klingen jetzt, nachdem eine rot-grüne Bundesregierung abgewählt wurde genauso aktuell wie vor 20 Jahren. Liberale haben es wirklich gut, sie brauchen bloß ihr Zeugs von vor 20 Jahren abzustauben und können zu jeder Zeit wahre Rhetorikwunder vollbringen! Aber was sind die Ergebnisse der von Genscher ausgerufenen liberalen Epoche?

Yahoo Deutschland Nachrichten [3] zitieren in einem Artikel den Spiegel [4], wonach sich Sozialpolitiker in der Union regen, um Angela Merkel zu einem Kurswechsel zu drängen. Denn rot-grün ist zwar abgewählt, aber schwarz-gelb ist nicht gewählt worden und man darf sich fragen: Warum denn nicht?

Der Kern des Spiegel Artikels ist eine Analyse des Wahlergebnisses wonach die CDU bei der Bundestagswahl 2005 ca. 7 Prozentpunkte der Arbeiterstimmen verloren hätte, weil sie diesmal nicht steigende Renten und höheres Kindergeld versprochen hätte, sondern weniger Kündigungsschutz und sinkende Sozialleistungen.

Die Neo-Liberale Epoche, die Genscher vor 20 Jahren ausrief, lässt sie auf sich warten? Mit Nichten! Genscher hatte recht die letzten 20 Jahren standen nicht nur in Deutschland, sondern weltweit im Zeichen Neo-Liberaler Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik und anders als Schröder im Wahlkampf behauptete hat die Kohl Regierung in den 80 und 90er Jahren wacker Demontagen am Wohlfahrtsstaat und der deutschen Bürokratie vorgenommen, freilich ohne den Anstieg der Arbeitslosenzahlen und die wirtschaftliche Rezession aufhalten zu können. In vielen anderen westlichen Demokratien in denen diese Wirtschaftsreformen durchgesetzt wurden haben sie angeblich gewirkt. Somit könnte mit Schröder und Merkel geschlossen werden, dass die vergangenen Deregulierungen in Deutschland nicht heftig genug waren.

Und damit die Deutschen tatsächlich zu diesem Schluss kommen, gibt’s die 30 Millionen Euro „Du bist Deutschland“[5] Kampagne des Bertelsmann-Verlags, deren Thinktank – die Bertelsmann-Stiftung - übrigens die Beratergang für neo-liberale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der deutschen Politiker Elite rekrutiert. So steht’s jedenfalls bei Frank Böckelmann, Hersch Fischler: Bertelsmann – Hinter der Fassade des Medienimperiums [2]. Auf den Seiten 226 bis 230 zeigen die Autoren dass die Bertelsmann-Stiftung die Politik in den 90er Jahren entscheidend mitbestimmt hatte und dass Hartz IV und die Agenda 2010 der Schröder-Regierung ihre Grundlagen im Projekt „Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe“ der Bertelsmann-Stiftung hatten.

Zählt man 1 + 1 zusammen, also Rekrutierung eines Neoliberalen Thinktanks und mangelnden Erfolg eben jener Polit-Beratung, kommt man der Begründung der Social Marketing Kampagne ‚Du bist Deutschland’ des Bertelsmann Verlags nahe. Schuld am Versagen einer 20 Jährigen Reformpolitik sind nicht die Reformen, sondern die miesepetrigen Deutschen und weil man sie nicht einfach beschimpfen kann in der Hoffnung endlich so zu leben wie die neoliberalen Vordenker es in ihrem Weltbild erwarten, gibt’s die protzige Medienkampagne initiiert vom Bertelsmann-Verlag um den Deutschen den fehlenden Habitus einzuimpfen.

Im Job-Wunderland USA, wo diese Reformen angeblich gewirkt haben, kann man sich im Supermarkt nach dem Einkauf das Zeugs in Tüten packen und zum Auto tragen lassen. Wer diese Dienstleistung bei Lidl probiert wird von der Polizei verhaftet, weil alle glauben, es handle sich um ein neues Betrugsmanöver. Für sehr viele Beispiele dieser niederen Dienstleistungen gelten ähnliche Vorbehalte. Die Deutschen sind nicht blöd genug um diese entwürdigenden Arbeiten anzubieten und zu geizig um sie nachzufragen. Und deswegen wird die künftige schwarz-rote Koalition einen Modus vivendi für die Deutschen finden müssen, der Hilft die Herausforderungen der Globalisierung zu bestehen ohne Benimm-Regeln des Marlboro Manns zu adaptieren. Und ähnlich wie die Phantasie von Freiheit und Abenteuer einer Realität von Lungenkrebs und Chemotherapie weichen musste wird die engagiert zupackende Art der „Du bist Deutschland“ Charaktere in der Realität scheitern wenn die realen Manager die erhöhte Produktivität der Arbeiter dazu nutzt Ressourcen freizusetzen. Das steigert den Gewinn und erhöht sowohl die Dividende wie auch die Aktienkurse – und das ist nun mal der Job eines Managers – egal wer Deutschland ist!

Zitierte Literatur:

  1. Hans-Dietrich Genscher: Erinnerungen, 1. Aufl. Berlin, Siedler 1995
  2. Frank Böckelmann, Hersch Fischler, Bertelsmann – Hinter der Fassade des Medienimperiums, 1. Aufl. Frankfurt am Main, Eichborn 2004
  3. Unionspolitiker kritisieren Merkels Wahlkampf: http://de.news.yahoo.com/050930/3/4pjrb.html
  4. René Pfister: Anleitung zum Unglücklichsein http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,377453,00.html
  5. Du bist Deutschland http://www.du-bist-deutschland.de/

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